Cottbus-Lexikon

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Industrialisierung: Die Stadt wächst

Um zu entdecken, wie sich Cottbus während der Industrialisierung in der Zeit zwischen 1870 und 1910 entwickelte, reicht ein Vergleich von Stadtplänen. Um 1870 sah sich die Stadt noch weitestgehend durch die frühneuzeitliche Stadtmauer – also etwa den Raum der heutigen Altstadt – begrenzt. Die Vororte der Stadt wie Brunschwig, Sandow oder die Luckauer Vorstadt vermittelten dagegen bereits ein ländliches Flair. Insgesamt lebten im Stadtgebiet kaum mehr als 19.000 Personen. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges explodierte hingegen die Bevölkerungszahl. 1910 zählte die Stadt bereits mehr als 48.000 Einwohner. Die Stadt war über den alten Kern hinausgewachsen, hatte die Vororte aufgesogen und war weit in den ländlichen Raum vorgedrungen. Die Bebauungsfläche hatte sich mehr als verfünffacht, das Bahnhofsgelände dominierte den Südwesten der Stadt, die Straßenbahn erhöhte die innerstädtische Mobilität auf drei Linien und das Städtische Elektrizitätswerk beliefert die wachsende Industrie mit Strom. Alles schien in Bewegung zu sein.

Möglich wurde diese rasante Entwicklung durch die beiden, eng miteinander wirkenden Prozesse Industrialisierung und Migration. Bereits ab 1800 waren in Cottbus erste frühe Merkmale einer Industrialisierung zu sehen, als die mechanische Spinnmaschine in der Stadt Einzug hielt und zum »Totengräber« des alten Tuchmacherhandwerks wurde. Massive Auswirkungen zeigten sich aber erst mit dem Beginn der Hochindustrialisierung in den 1870er Jahren. Besonders die in Cottbus fest verankerte Textilindustrie wurde zum bestimmenden Motor des gesellschaftlich- wirtschaftlichen Umwälzungsprozesses. Textilfabriken schossen vor allem im eingemeindeten Ostrow sowie im Norden der Stadt aus dem Boden. 1900 existierten bereits 64 Fabriken, die den deutschen Binnenmarkt belieferten, aber auch ins Ausland exportierten. Parallel zog die schnelle Expansion eine beachtliche Zulieferindustrie nach sich. Aber schon zu dieser Zeit wurde festgestellt bzw. prophezeit, dass man sich mit der Konzentration auf den Textilsektor in eine industrielle Monokultur bewege. Damit wäre die Stadt gegenüber wirtschaftlichen Krisenzeiten besonders anfällig.

Der Industrialisierungsprozess in Cottbus – wie auch reichsweit – wäre ohne eine wichtige Ressource jedoch nicht denkbar gewesen: den Mensch. Die Fabriken hungerten nach Arbeitskräften und lösten eine Binnenmigration im Deutschen Reich von bislang nicht bekannten Dimensionen aus, die durch neue und kostengünstige Verkehrsmittel zusätzlich erleichtert wurde. Die regionalen und überregionalen Industriezentren wurden damit zu Magneten der Migration. Aus den ländlichen Regionen strömten Hunderttausende in die Städte auf der Suche nach Arbeit. Vor allem die jüngere, männliche Bevölkerung entfloh der beengten Sozialordnung der adligen Gutsdörfer.

Somit drängten sowohl aus den umliegenden als auch aus entfernteren Regionen neben Facharbeitern auch Tagelöhner und Ungelernte, verarmte Bauern und Landarbeiter in die Städte. Vor allem in dieser Gruppe der ärmeren Landbevölkerung hatte es seit dem Anfang 19. Jahrhunderts einen enormen Zuwachs gegeben. Dass diese Überbevölkerung als Problem wahrgenommen wurde, zeigte ein amtliches Schreiben von 1848, in dem man feststellte, »dass die Bevölkerung der Arbeiter Klasse in der stärksten Progression [Entwicklung] wächst und die Ansprüche sich ins Ungeheure vermehren müssen, wenn nicht durch Auswanderungen ein Abfluß verschafft wird.«

Um für die »Einwanderer« in Cottbus Raum zu schaffen, wurde – wie auch hundert Jahre später – mit dem Bau von Häusern am damaligen Stadtrand begonnen. Schwerpunkte der neuen Siedlungen war vor allem Sandow, wo der Großteil der IndustriearbeiterInnen eine neue Unterkunft fand und später als »rotes Sandow« bezeichnet werden sollte. Von den damaligen Gebäuden ist kaum noch etwas erhalten. In ihren Ausmaßen waren sie kaum vergleichbar mit den Berliner Mietskasernen. Die Probleme, die das Zusammenleben unter ärmlichen Verhältnissen mit sich brachte, dürften sich jedoch sehr geähnelt haben. Alle Einheiten eines Wohnhauses wurden als Wohnraum genutzt. Neben Dachwohnungen existierten wegen des Wohnraummangels auch zahlreiche Unterkünfte im Souterrain, also im Kellerbereich. Auf den wenigen Quadratmetern verbrachten die jüngsten Familienmitglieder den Großteil des Tages, während die ArbeiterInnen bis zu 14 Stunden am Tag arbeiteten.

Quellen:
Adress-Buch von Cottbus und den Vororten Sandow und Brunschwig. Cottbus 1905. | Stadtarchiv Cottbus (A.II.6.4 Nr. 21) | Bayerl, Günter: Peripherie als Schicksal und Chance. Studien zur neueren Geschichte der Niederlausitz. Münster u.a. 2011. | Christl, Andreas u.a.: Geschichte der Stadt Cottbus. Cottbus 1990. | Ackermann, Irmgard; Cante, Marcus; Mues, Antje u.a.: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland – Denkmale in Brandenburg. Band 2.1: Stadt Cottbus, Teil 1: Altstadt, Mühleninsel, Neustadt und Ostrow, innere Spremberger Vorstadt, „Stadtpromenade“, westliche Stadterweiterung, historisches Brunschwig. Worms 2001. | Reich, Uwe: Aus Cottbus und Arnswalde in die Neue Welt. Amerika-Auswanderung aus Ostelbien im 19. Jahrhundert. Osnabrück 1997. | Standortentwicklung und Standortverteilung der Tuchindustrie im Bezirk Cottbus in der Zeit von 1870 bis 1967. Eine historisch-geographische Analyse. Cottbus 1981. | Zuckermann, Brigitta: Standortentwicklung und Standortverteilung der Tuchindustrie im Bezirk Cottbus in der Zeit von 1870 bis 1967. Eine historisch-geographische Analyse. Cottbus 1981.

Autor: Paul Fröhlich

Bildquelle: Tasche eines Straßenbahnschaffners, (c) Thomas Richert

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