Cottbus-Lexikon

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Deindustrialisierung und Wende - die Jugend geht

Im Dezember 1989 hatte die Bevölkerungsgröße von Cottbus die Zahl von 128.943 EinwohnerInnen und damit ihren bisherigen Höchststand erreicht. Der zu diesem Zeitpunkt bereits greifbare politische Wandel – auch in Cottbus war es am 30. Oktober 1989 zur ersten Großdemonstration gegen die SED-Führung gekommen – sollte jedoch einen tiefen demografischen und strukturellen Wandel nach sich ziehen. Migration bzw. Bevölkerungswanderung wurde in Cottbus nun erneut zu einem allgegenwärtigen Phänomen. Dieses Mal jedoch mit einer gegenläufigen Richtung gegenüber den vorherigen Jahrzehnten.

Die Industrialisierung ab den Fünfzigerjahren hatte Cottbus in ein Zentrum der Energie-, Kohle- und Textilproduktion verwandelt und Tausende von Fachkräften hierher gelenkt. Mit der politischen Wende und der Wiedervereinigung schwanden jedoch auf einen Schlag die ökonomischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten dieser Industriezweige. Einerseits erwiesen sich die Produktionseinrichtungen als marode und wenig konkurrenzfähig. Andererseits hatte im »Westen« bereits deutlich früher und über einen längeren Zeitraum der Prozess einer Deindustrialisierung eingesetzt, der mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen der Montanindustrie in das Ausland gekennzeichnet war. Für die Niederlausitz bedeutete der Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft den fast vollständigen Zusammenbruch von über Jahre aufgebauten Wirtschaftszweigen in kürzester Zeit. Das VEB Textilkombinat Cottbus musste seine Fertigung weitestgehend einstellen, so dass von den 16.000 MitarbeiterInnen im Jahr 1989 vier Jahre später nur noch 700 tätig waren. Mit etwas mehr Verzögerung erreichte eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so dramatische Entwicklung die Braunkohle. Ebenso verschwand mit der Abwicklung der NVA ein weiterer großer »Arbeitgeber« der Stadt. In weniger als drei Jahren stieg die Arbeitslosigkeit in der Niederlausitz von knapp 6 (1990) auf 16 Prozent (1993).

Die Folge der plötzlichen Deindustrialisierung und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit war eine über Jahre andauernde Abwanderungswelle. Ziel der einsetzende Arbeitsmigration waren häufig die alten Bundesländer. Insgesamt siedelten 1,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik über. Genaue Zahlen für Cottbus sind nicht ermittelt, jedoch gibt die städtische Einwohnerstatistik diesen Entwicklung wieder: Im Dezember 1990 hatte die Stadt bereits 3000 Menschen verloren, bis zum Ende des Jahrzehnts waren es fast 20.000. Fast genauso schnell, wie die Elterngeneration nach Cottbus gekommen war, verließ deren Kindergeneration jetzt den Ort, denn es waren vor allem junge Menschen, die Arbeit und höhere Verdienstmöglichkeiten im Westen suchten. Hinzu trat angesichts der unsicheren wirtschaftlichen und sozialen Situation ein enormer Geburtenabfall.

Besonders waren von dieser Entwicklung die Plattenbausiedlungen Sachsendorf-Madlow und Schmellwitz betroffen, wo die »Träger der Industrialisierung« hauptsächlich untergekommen waren. Zudem wandelte sich die Wahrnehmung der Plattenbauwohnungen fast ins komplette Gegenteil, womit zusätzlich eine innerstädtische Wanderungsbewegung in Gang gesetzt wurde. Denn lange galten diese Wohnungen mit ihrem großem Schnitt, Innenbädern und Fernheizungen als vorbildlich. Ab 1990 zog es jedoch jene, die es sich leisten konnten, in die bald restaurierte Altstadt oder in das angrenzende Umland. Auf diese Weise nahm der Leerstand am Rand der Stand beständig zu. Um unnötige Betriebskosten zu vermeiden und die Wohngebiete attraktiver zu gestalten, begann man unter dem Motto »Ränder rückbauen – Zentren stärken« mit dem Rückbau der Plattenbausiedlungen. Auf diese Weise verschwanden bis 2006 zahlreiche Wohnblöcke mit insgesamt etwa 5100 Wohneinheiten. Von deren einstiger Existenz künden häufig nur noch die nun funktionslosen Straßen, die bis dahin umgaben.

Quellen:

Bayerl, Günter: Peripherie als Schicksal und Chance. Studien zur neueren Geschichte der Niederlausitz. Münster u.a. 2011. | Bernt, Matthias; Milstrey, Ulrike: Quartiere auf Zeit revisited. Neue Herausforderungen für Politik und Planung. In: Großwohnsiedlungen im Haltbarkeitscheck Differenzierte Perspektiven ostdeutscher Großwohnsiedlungen. hrsg. v. Uwe Altrock u.a.. Wiesbaden 2018. | Flemming, Thomas: Zwischen Historie und Herausforderung. Die IHK Cottbus 1851–2018. Cottbus 2001. | Mistrey, Ulrike: Herausforderungen für die Stadtentwicklung in zwei „Quartieren auf Zeit“: Cottbus Neu-Schmellwitz und Schwerin Mueßer Holz. In: Stadterneuerung und Armut. hrsg. v. Uwe Altrock, Ronald Kunze. Wiesbaden 2017.

Autor: Paul Fröhlich

Bildquelle: Fliese des "Spinnenbrunnens" von Horst Ring, (c) Thomas Richert

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