Cottbus-Lexikon

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Auswanderung: Amerika? Australien!

Am 16. Juni 1877 begann für den Theodor Stucklich (1846–1915) eine Fahrt ohne Wiederkehr. Gemeinsam mit seiner hochschwangeren Frau Friedricke und seinen drei Kindern bestieg der Cottbuser Sattler in Hamburg das Segelschiff »Peter Godeffroy«. Für die folgenden drei Monate befand er sich das erste Mal in seinem Leben auf hoher See und erreichte im Oktober das australische Adelaide. Dort ließ er sich mit seiner Familie nieder und nahm seinen alten Beruf wieder auf.

Theodor Stucklichs Unternehmung und Reiseziel war keineswegs außergewöhnlich. Hunderttausende vor ihm waren aus dem »alten Europa in neue Welten« ausgewandert und einer ungewissen Zukunft entgegengesteuert. Die Auslöser waren dabei fast immer die gleichen: Armut und Hunger. Das enorme Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte gerade unter der Landbevölkerung zu Verarmung geführt. Für immer mehr Menschen war immer weniger Land vorhanden, was zu steigenden Preisen für die eigene Scholle führte. Immer mehr Menschen auf dem Land wurden so zu Besitzlosen, die sich ohne Aussicht auf Besserung als Tagelöhner verdingen mussten. Dazu traten um 1850 mehrere Teuerungswellen bei Nahrungsmitteln, die wiederum die ärmere Bevölkerung besonders hart traf.

Auch in den Städten sah es kaum besser aus. Gerade in Orten wie Cottbus setzte zu Beginn des Jahrhunderts die Mechanisierung der Tuchproduktion ein. Immer weniger konnte das Handwerk mit den billigeren Produkten der dampfgetriebenen Webstühle konkurrieren. Früher oder später war der Großteil der Meister und ihrer Gesellen gezwungen, die Geschäfte aufzugeben und mit vielen anderen eine Anstellung in den Fabriken zu suchen.

Diese Armuts- bzw. Erwerbskrise führten zu einem immer stärkeren Auswanderungswillen. War man zunächst nur in angrenzende Regionen mit ähnlichen Problemen gezogen, ermöglichten Eisenbahnen und Dampfschiffe schon bald eine deutlich höhere Mobilität. Die Auswanderung im Cottbuser Landkreis erreichte schon Ende der 1850er Jahre ihren Höhepunkt und stand im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) an erster Stelle. Zunächst waren vor allem ledige Männer in die Ferne gezogen. Im Fall einer aussichtsreichen Ansiedlung in Übersee teilten sie ihre Erfahrungen durch Briefe der Zurückgelassenen mit, was häufig zu einem Sogeffekt bzw. einem Kettennachzug aus ihren Heimatdörfern führte. Allein aus dem Dorf Werben folgten 1854 knapp 90 Einwohner – immerhin 5 Prozent der Dorfbevölkerung – den Pionieren über den Ozean. Erleichtert wurden die Reisebemühungen dabei durch eine große Vielfalt an Ratgebern für Auswanderer und Agenturen, die für den Transfer mit Plakaten sowie günstigen Preisen warben und diesen im Anschluss organisierten.

Bei den Zielen dominierte unter der ländlichen Bevölkerung des Kreises Cottbus der australische Kontinent. Hier ließen sich vor allem wendische MigrantInnen in der Provinz South Australia nieder. Noch heute erinnert u. a. die »Wendish Heritage Society Australia« an sie. Die städtische Bevölkerung zog es entsprechend ihrer Berufsherkunft hingegen eher in die industriellen Zentren der Vereinigten Staaten, wo Nachkommen sich immer noch um das kulturelle Erbe kümmern (»Texas Wendish Heritage«). Hier zeigte sich in Cottbus auch die durch die Mechanisierung hervorgerufene Krise des Handwerks, denn knapp die Hälfte aller ausgewanderten Handwerker waren Tuchmacher. Insgesamt emigrierten mit einem »one-way-ticket« zwischen 1840 und 1890 etwa 11.000 Menschen aus der Cottbuser Region. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung ab den 1870er Jahren ebbte die Entwicklung ab, da nun neue Erwerbsmöglichkeiten in der Textilindustrie und im Braunkohleabbau existierten. Dennoch beobachte man von Seiten des Staates noch immer besorgt die Auswanderungstendenzen, da man angesichts des Verlustes von Land- und Facharbeitern Rückwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung fürchtete. So wurden von den Magistrat penibel Listen darüber geführt, wie viele Auswanderer sich ohne die vorgeschriebene Abmeldung bei der Polizei gewissermaßen durch »Flucht« entzogen.

Quellen:
Stadtarchiv Cottbus (A.II.3.2e Nr. 1) | Stadtarchiv Cottbus (A.I.16.1c Nr. 8) | Mergel, Thomas: Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, in: Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. hrsg. von Sven O. Müller, Cornelius Torp. Göttingen 2009, S. 374–391. | Reich, Uwe: Aus Cottbus und Arnswalde in die Neue Welt. Amerika-Auswanderung aus Ostelbien im 19. Jahrhundert, Osnabrück 1997. | Wehner, Volkhard: The German-speaking community of Victoria between 1850 and 1930. Origin, progress and decline. Berlin 2018.

Weiterführende Links:
https://texaswendish.org | https://www.wendishheritage.org.au | https://localwiki.org/adelaide-hills/South_Australia_-_Early_Arrivals_and_Departures

Autor: Paul Fröhlich

Bildquelle: Modell einer Dampfmaschine, (c) Thomas Richert

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